DIALOGE DER KARMELITINNEN von Francis Poulenc in Hannover – Psychisch und szenisch gestört

An der Staatsoper Hannover feierte am vergangenen Samstag eine der wenigen erfolgreichen Opern Premiere, die ganz ohne Liebesgeschichte auskommt. In den Dialogen der Karmelitinnen von Francis Poulenc geht es stattdessen um Angststörungen, Sehnsucht nach Sicherheit und Martyrium. Kein einfaches Unterfangen diese abstrakten Gegenstände bühnenwirksam darzustellen. In Hannover hat sich niemand geringeres als Dietrich Hilsdorf dieser Aufgabe angenommen und bringt dafür bewährte Unterstützung in Form von Bühnenbildner Dieter Richter und Kostümbildnerin Renate Schmitzer mit. Bei dieser Kombination kann man sicher sein, dass drin ist, was vorne drauf steht, dass es ästhetisch ansprechend ist und viel Wert auf Details gelegt wird.

Himmel und Hölle liegen nah beieinander

Vor Beginn des Stücks sieht man auf eine weiße Häuserreihe, vor der ein Vorhang einen Bauzaun darstellt. Zwei Kinder treten auf, die auf dieser Straße Himmel und Hölle spielen. Erst viel später wird mir bewusst, dass diese Häuser nicht beliebig sind, sondern konkret das sogenannte Horrorhaus von Höxter vorstellt, einen realen Ort, an dem sich gutgläubige Frauen den Himmel wünschten und die Hölle erlebten. An diesem unscheinbaren Ort wohnte ein Paar, das sich per Kontaktanzeige Frauen ins Haus holte und dort erniedrigte, misshandelte und teilweise bis zum Tod folterte. Die beiden Täter, die 2016 durch Zufall überführt wurden, sollen eine gemeinsame psychische Störung haben. Was hat dieser furchtbare Fall nun mit der Oper Dialoge der Karmelitinnen zu tun? Regisseur Dietrich Hilsdorf scheint die Geschichte von Blanche hinter einer ähnlich unscheinbaren Fassade zu sehen. Er zeigt eine gestörte Familiensituation, in der sich die ängstliche Blanche wie ein Kind unter dem Tisch versteckt, vom Bruder mit Suppe gefüttert wird und von der Gouvernante bemuttert wird. Gibt es da nicht sogar eine inzestuöse Beziehung zwischen den Geschwistern? Wieso bohrt der Bruder ihr immer wieder den Finger in die Schulter?

Milde ausgedrückt: Blanches Vater (Stefan Adam) ist mit ihrer (Dorothea Maria Marx) Entscheidung, ins Kloster zu gehen, nicht ganz einverstanden, „Dialoge der Karmelitinnen“ von Francis Poulenc an der Staatsoper Hannover, Foto: Thomas M. Jauk

Es sind diese kleinen penetranten und übergriffigen Gesten mit denen Hilsdorf zeigt, dass Blanche in ihrer Familie traumatisiert wurde. Ist das der Grund für ihre Angststörung und ihre Flucht ins Kloster? Jedenfalls findet sie dort nicht die heile Welt, nach der sie sich sehnt, denn gerade hier scheinen sich alle möglichen neurotischen Persönlichkeiten versammelt zu haben. Da gibt es Nonnen mit autoaggressivem Verhalten, mit uneingestandenem Kinderwunsch oder mit Minderwertigkeitskomplex. Kein besonders positives oder gar seliges Bild zeichnet Hilsdorf hier von den Karmelitinnen, die am Ende alle Märtyrerinnen sein werden.

Kein Kloster, kein Habit

Mich hat verwundert, dass Kostümbildnerin Renate Schmitzer in dieser Inszenierung komplett auf Habite verzichtet hat. Möglich ist, dass der Wunsch bestand, die Individualität der einzelnen Nonnen besser herauszustellen – aber besteht nicht gerade der Sinn des Habits darin, das Individuum in der Gemeinschaft aufzulösen? Außerdem bietet das Ordensgewand eine Sicherheit durch seine optische Abgrenzung vom bürgerlichen Leben. Ist es nicht auch das, was Blanche sucht und ist es damit nicht inhaltlich relevant?

Auch der Raum von Dieter Richter wirft Fragen auf. Nachdem der Bauzaun-Vorhang weggezogen wurde, öffnet sich die Häuserreihe, um den Blick auf einen einzigen Raum freizugeben. Auf eine Art ist es immer der gleiche Ort, an dem sich Blanche befindet. Wenn einen diese fehlenden Ortswechsel nicht sehr irritieren, könnte man sagen, dass sie ihrem Trauma nicht entfliehen kann. Manchmal werden allerdings Gegenstände in diesen Raum gebracht, um doch irgendwie ein anderes Zimmer darzustellen. Und wieso werden im zweiten Teil des Abends die Innenwände mintgrün gestrichen?

Naturalismus, gestört

Ohne Zweifel zeugt der Raum von Dieter Richter von einem gewohnt professionell entworfenem und umgesetzten Naturalismus. Dieser wird jedoch durchbrochen von einer hohen Reihe von Leuchtstoffröhren, die mit ihrem kalten Licht ein komplettes Eintauchen in die Szenerie unmöglich machen.

Nonnen ohne Habit werden überstrahlt von nüchternen Leuchtstoffröhren, „Dialoge der Karmelitinnen“ von Francis Poulenc an der Staatsoper Hannover, Foto: Thomas M. Jauk

Übertroffen wird diese konstante Störung später von Flutlichtern, die den gesamten Saal in ein gleißendes Licht tauchen und in dem sich der Zuschauer als Teil der blutdurstigen Menge am Schafott der Nonnen sieht. Ein alter Theatertrick, der leider schon zu oft angewendet wurde, als dass ein erfahrener Operngänger davon noch betroffen sein könnte.

Durch Mark und Bein

Was diesen Abend jenseits aller offenen Fragen oder Zweifel aber zu einem Erlebnis macht, ist der Schluss. Die Karmelitinnen singen angesichts ihrer Hinrichtung den Psalm 117 „Lobet den Herrn, alle Völker!“. Währenddessen hat sich hinten eine Tür geöffnet. Dahinter zeigt sich ein weiß-glühender, endloser Raum. Eine nach der anderen nähert sich rückwärts gehend dieser Tür, durchschreitet sie und verschwindet hinter der im Rhythmus der Musik zuschlagenden Tür. Es ist ein markerschütternder Knall, der offenbar durch einen speziellen Türrahmen in Kombination mit einer Tonverstärkung erzeugt wird und der in seiner monotonen Wiederholung den Schrecken der Enthauptungen intensiver hervorruft als es jede konkrete Darstellung vermocht hätte.

Augenblicke vor ihrer Hinrichtung singen und beten sie, „Dialoge der Karmelitinnen“ von Francis Poulenc an der Staatsoper Hannover, Foto: Thomas M. Jauk

Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Es steht Hilsdorf drauf und es ist Hilsdorf drin. Feine psychologische Personenregie, Verfremdungstechniken und mindestens eine geniale Idee, die auch dem letzten Regietheater-Muffel den Mund offen stehen lässt.


Dialoge der Karmelitinnen (Dialogues des Carmélites). Oper in drei Akten von Francis Poulenc (UA Mailand 1957)

Staatsoper Hannover
Musikalische Leitung: Rauhalammi
Regie: Dietrich W. Hilsdorf
Bühne: Dieter Richter
Kostüme: Renate Schmitzer
Licht: Susanne Reinhardt
Dramaturgie: Swantje Köhnecke

Besuchte Vorstellung: 2. Juni 2018 (Premiere)

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