Sprengt die Opernhäuser in die Luft! An diese berühmte Aufforderung muss ich unwillkürlich nach jeder besuchten Vorstellung an der Oper Halle denken. Denn mir scheint, dass an diesem Haus alles daran gesetzt wird, dieser Idee des Dirigenten Pierre Boulez Folge zu leisten – allerdings in einer Form, die ohne den Verlust von tatsächlicher Bausubstanz auskommt. So ist auch die Uraufführung von Mein Staat als Freund und Geliebte von Johannes Kreidler, die seit dem 27. April in Halle zu sehen ist, ein ästhetischer Anschlag auf die Tradition der Oper an sich.
Der Staat als Spielpartner
Am besten wagt man sich an eine Erklärung zu diesem Musiktheaterwerk heran, indem man es von der Grundidee her denkt. Im Einführungsgespräch berichtet Chefdramaturg Michael von zur Mühlen davon, dass Johannes Kreidler zuerst über die Rolle des Chores auf der Bühne nachgedacht hat. Dieser stellt zumeist eine Gemeinschaft dar – oder speziell einen Staat. Die nächste Frage – die ich ihm unterstelle – wäre dann, wie eine Oper aussehen müsste, die als Hauptprotagonist eben diesen Staat vorstellt. Dabei war es Kreidler ein besonderes Anliegen, das Individuum dem Staat gegenüber zu stellen und die beiden in unterschiedlichen Situationen und Beziehungen zueinander zu zeigen. Wie aber kann man eine Gruppe von Menschen auf der Bühne als handelnde Institution darstellen? Die humorige Lösung des Künstlers Kreidler sieht folgendermaßen aus: Auf einer Projektionswand werden Ausschnitte aus alten Hollywood-Filmen gezeigt, in denen jeweils ein Dialog stattfindet. Die eine Figur wurde in der Aufnahme neu synchronisiert – die andere wird live vom gesamten Chor synchronisiert. Et voilà, der Staat hat nun Körper und Stimme und kann mit dem Einzelnen interagieren. Das ist auf jeden Fall absurd, manchmal komisch und immer bemerkenswert gut vom Chor der Oper Halle umgesetzt. Als alter Trekkie erinnerte mich diese Sprechweise gleich an ein bestimmtes kollektives Bewusstsein, das in der ganzen Galaxis Angst und Schrecken verbreitet: „Wir sind die Borg. Widerstand ist zwecklos.“
Ist das Oper?
Um es kurz zu machen: Nein, ich halte dieses Werk nicht für eine Oper und sehe es als Provokation, dass es so bezeichnet wird. Johannes Kreidler selbst wendet laut Dramaturg von zur Mühlen den erweiterten Kompositionsbegriff auf das an, was an diesem Abend zu sehen ist. Das klingt zurst durchaus interessant: „Prinzipien der Komposition finden Anwendung auf andere Medien und Formsprachen […]“ Außerdem bedient er sich in der Art einer Collage am Fundus der Musikgeschichte. Ganz konkret bedeutet dies, dass wir Musik von Puccini, Liszt, Wagner, Weber und anderen (tatsächlichen) Komponisten hören, die allerdings in einen anderen Kontext gestellt wird. Ist das nun schon Komponieren?
Ein weiterer Hauptprotagonist auf Kreidlers Bühne ist der Schauspieler und Pianist Stefan, der viel Politisches und Soziologisches zum Thema „Staat“ beizutragen hat. Das ist mitunter ganz witzig, aber über weite Strecken auch mühsam und wirkt belehrend. Mit seinem Schlussmonolog vergrault er jedenfalls auch den letzten traditionsverbundenen Operngänger. Am Ende der Vorstellung soll nämlich doch bitte nicht applaudiert werden, was ohnehin ein sträflich banales Ritual sei, das eine sofortige und damit unreflektierte Bewertung des Gesehenen sei. Und die sei doch völlig inadäquat, wenn man bedenkt wieviel Vorbereitung, Überlegung und Arbeit hinter der Aufführung steht. Man sollte vielmehr die aufgebaute Spannung aushalten, sie mitnehmen in das eigene, reale Leben und dort damit umgehen, sodass quasi eine Vermischung von Kunst und Leben überhaupt möglich wird. Ein paar laute demonstrative Klatscher aus dem Saal der Oper Halle konnten Stefan bei dieser provokanten Ansprache nicht aus der Fassung bringen. Und es ist ja auch eine bedenkenswerte Haltung, die man zum Phänomen des Schlussapplaus‘ haben kann. Und so verließen die Zuschauer auch tatsächlich in leicht angespannter und irritierter Stimmung den Saal – ganz ohne die Hände gegeneinander zu schlagen.
Mein Staat als Freund und Geliebte von Johannes Kreidler ist am Ende ein irgendwie kurzweiliger Abend, der mit einigen guten Ideen gespickt ist, der aber nichts mit Oper, wie wir sie kennen, zu tun hat. Und genau deswegen hat dieses Stück ein wenig von der Sprengkraft, die sich Pierre Boulez gewünscht hatte.
Mein Staat als Freund und Geliebte. Oper von Johannes Kreidler. Für Chor, Video, einen Schauspieler, einen dramatischen Tenor, Ballett Orchester und Elektronik. (Ein Auftragswerk der Oper Halle)
Oper Halle
Musikalische Leitung: Christopher Sprenger
Konzeption / Komposition / Regie: Johannes Kreidler
Bühne: Christoph Ernst
Kamera: Iwo Kurze
Choreografie: Dalier Burchanow
Dramaturgie: Michael von zur Mühlen
Besuchte Vorstellung: 12. Mai 2018