In der Oper ist ein Thema allgegenwärtig. Nein, ich spreche nicht von Liebe. Sondern vom Tod. Ständig kratzt jemand ab, geht hops, macht die Biege. Das fällt meist nicht negativ auf, weil das Ableben meist in einem größeren dramatischen und dramaturgischen Zusammenhang steht: Werther erträgt ein Dasein ohne Charlotte nicht, Kaspar wird bestraft, Gilda schützt den Duca, Violetta hat die Motten.
Das kann schon mal zum Tod führen, ohne Zweifel. Aber warum muss nun unbedingt ein Mann mit Zollstock sterben? Warum eine Frau mit roten Schuhen? Warum ein Kind mit Ball? Nein, da gibt es schlicht und einfach keinen Grund. „Mensch, du musst sterben.“ Das kann man genau so als Überschrift der Vorstellung actus tragicus an der Staatsoper Stuttgart nehmen. Puh.
Leben im Puppenhaus
Herbert Wernicke hat für seine Inszenierung von sechs Kirchenkantanten Johann Sebastian Bachs (ursprünglich entstanden für das Theater Basel 2000) ein portalfüllendes Wohnhaus auf die Bühne gestellt. Die Nachbarn – Solisten, Choristen und Statisten – gehen in knapp 20 Räumen ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Die Hausfrau aus dem 3. Stock bügelt weiße Hemden, im Erdgeschoss turnt ein junger Mann, im Hochparterre ist ein Liebespaar zugange und oben drüber wird Weihnachten gefeiert. Von Raum zu Raum geht ein Mann im Trenchcoat, der die unmöglichsten Abstände vermisst, eine junge Dame mit roten Schuhen wechselt im 1. Stock links unaufhörlich die Kleidung, ein kleiner Junge kickt im Hinterhof einen Ball durch die Gegend. Die Sorge, dass man als Zuschauer nicht jede Szene verfolgen kann und damit Zusammenhänge verpassen könnte, stellt sich bald als unbegründet heraus: Die Bewohner scheinen einem Zwang zur unendlichen Wiederholung zu unterliegen.
Bachs Musik, die sich inhaltlich um Vergänglichkeit, Leid und Tod dreht, klingt angesichts dieser Banalitäten wie eine ferne Erinnerung oder tief verborgene Sehnsucht nach spiritueller Führung, die nicht so recht in dieses heutige Bild passen will, aber trotzdem präsent ist, und das nicht nur akustisch. Unten im Keller liegt eine Leiche in einer unzugänglichen Kammer – eine dreidimensionale Nachbildung von Hans Holbeins Der tote Christus im Grabe (1521/22 Öl auf Holz, Kunstmuseum Basel).
Aber wer jetzt schon mit den Augen rollt und befürchtet, dass der Jesusstatist sich im dritten Akt die eingeschlafenen Waden ausschüttelt, aufsteht, den Aufzug nimmt, alle Mitmieter segnet und mit Brot und Trollinger verköstigt, sei hiermit entwarnt: Mit Jesus passiert nämlich nix. Er liegt da und rührt sich nicht. Und die Nachbarn haben nicht nur keinen Zugang zu ihm, sondern suchen ihn auch nicht.
Sie haben Jesus getötet!
Nein, dieser Christus ist definitiv tot, hat den Löffel abgegeben, hat den Holzpyjama angezogen. Und das sieht man auch an seinem geschlagenen geschundenen Körper. Es ist eine brutal-naturalistische Darstellung des vom Kreuz genommenen Leichnams, die damals so schockierend war, dass Dostojewski bei der Betrachtung einen epileptischen Anfall hatte. Später legte er dem Protagonisten seines Romans Der Idiot, der mit einer Kopie dieses Werks konfrontiert wird, die Worte in den Mund: „Wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte […]?“
Wernickes Theaterabend gibt keine Antwort auf diese Fragen und die fehlende dramaturgische Entwicklung korrespondiert sinnfällig mit der Orientierungslosigkeit der Figuren auf der Bühne – und der Leute im Zuschauerraum.
Gesucht: Sinn
Seitdem das eigene Leben und Sterben nicht mehr selbstverständlich an der Kirche ausgerichtet ist, suchen wir an allen möglichen (und unmöglichen) Orten nach transzendentalem Obdach: im indischen Ashram, in Selbsthilfebüchern, in der Philosophischen Lebensberatung, im Yoga-Kurs oder im Fernsehen. Und im Internet natürlich auch: MyMonk, ein deutscher Blog, der sich die Suche nach innerer Ruhe auf die Fahnen geschrieben hat und der inspirierende Blog Zenhabits im englischsprachigen Raum sind zwei viel gelesene Beispiele aus der bunten Blogosphäre. Die Angebote sind zahllos und die Entscheidung für eins von ihnen fällt schwer.
actus tragicus endet zwar mit einem in der Leere verhallenden „Mensch, du musst sterben“ – der Abend verbreitet aber dank spritziger Barockmusik gar keine Endzeitstimmung. Und auch wenn zum Schluss der Scheinwerfer auf den toten Christus als allerletztes erlischt, ist die Vorstellung kein Plädoyer für die Rückkehr zum Christentum. actus tragicus ist vielmehr ein Hinweis auf fast vergessene Wege zum so genannten Seelenheil. Vielleicht zu unrecht vergessen.
Kritik im Online Musik Magazin vom November 2006
Kritik im Guardian vom 20. August 2009
actus tragicus. Sechs Kirchenkantaten von Johann Sebastian Bach (UA 2000 Basel)
Musikalische Leitung: Michael Hofstetter
Regie, Bühne und Kostüme: Herbert Wernicke
Dramaturgie: Albrecht Puhlmann
Besuchte Vorstellung: 1. Juni 2014